Anderwelt ist ein Seinsbereich, der neben,
hinter und nach der realen, diesseitigen Körperwelt besteht. Sie ist nicht
einfach mit dem Reich der Toten (Annwn, Anaon) gleichzusetzen; wohl aber ist
dieses Totenreich Teil der Anderwelt. Die Anderwelt ist in toto vielmehr das
Reich des Transzendenten, des Mystischen, eben des Jenseitigen. Dort herrschen
besondere Gesetze, dort wirken besondere Kräfte. Die Kenntnis dieser Gesetze
und Kräfte oder von Teilen davon, die Erkenntnis, wie sie in die diesseitige Welt
hineinwirken und der Versuch, sie in dieser Welt nutzbar zu machen, wird als
anderweltliches Wissen bezeichnet und als Magie gedeutet;
anderweltliches Wissen hebt manche der diesseitigen Menschen über andere hinaus und ist den Mittelgeistern
selbstverständlich zu eigen. Anderweltliches Wissen gelangt auf verschiedenen
Wegen, etwa auch über Kessel und das darin Gebraute, zu den Menschen.
Die Anderwelt wird von besonderen, eben den
anderweltlichen Wesen bewohnt. Für ihre Herrscher, deren vielleicht nur einer
ist, vielleicht aber auch für je verschiedene Bereiche oder Auffassungen von
Anderwelt verschiedene, stehen Namen wie Arawn, Belenos, Donn,
Gwynn, Manannan, Pwyll. Bei der unausbleiblichen Gleichsetzung von Anderwelt mit der Unterwelt
der antiken Völker und dann mit der Hölle des christlichen Glaubens, wurden
Gwynn und Pwyll zum Teufel (Pol ist im Bretonischen der Teufel).
Von übrigen anderweltlichen Wesen weiß man
nur, wenn sie in diese Welt herüberkommen. Sie können bei solcher Gelegenheit
Menschengestalt haben - und hier wären viele, wenn nicht alle der als Götter
und als Mittelgeister bezeichneten Wesen zu zählen. Als Personen mit eigener
Geschichte haben sie über die Anderwelt herüber ragende Bedeutung.
Manche wohnen in großen Grabhügeln
(=bronzezeitliche Megalithen) und betreten von dort oder von anderen Stellen des
Übergangs her diese Welt.
Wieder andere anderweltliche Wesen nehmen in
dieser Welt die Gestalt von Tieren an, Schwänen, Kühen usw., und besitzen
magische Eigenschaften. So verfügte Finn über ein Schwein, das nicht gekocht,
das heißt: nicht getötet werden konnte. Ähnliches wird auch von einer Forelle
(=Lachs) berichtet. Raben oder Katzen ( ursprünglich vermutlich der Luchs)
bringen anderweltliches Wissen, welches sie an bestimmte Menschen weitergeben.
Das anderweltliche Wissen der Raben enthält
zumeist die Kunde von bevorstehendem Unheil, und kundige Menschen, Druiden also,
vermögen die Ankündigungen zu deuten (ein Vorgang, den die Römer Auspizien
nannten).
Häufiger aber kündigen anderweltliche Tiere,
also die anderweltlichen Wesen wie sie uns hier erscheinen, das Unglück nicht
an, sondern bringen es über die Menschen oder die Welt. Seltsame Vögel dörren
alles mit ihrem Atem aus, Gänse fressen alles weg, Schweine verwüsten ganze
Landstriche und erzeugen Not; ein dreiköpfiges Ungeheuer namens Ellen kommt
regelmäßig durch die Höhle Cruachan in diese Welt, um Brände zu legen und
anderes Unheil anzurichten. Es wird jedoch von Finn vernichtet.
Tiere, die nicht bösartig sind, wie manche
Vögel oder auch Insekten, können dennoch anderweltliche Wesen repräsentieren.
Es sind dann häufig Seelen von Verstorbenen (Hauchvögel, wie sie gelegentlich
genannt werden). Solche Seelen in Tier- oder auch in Menschengestalt können
nach dem Tod wiederkehren, um in dieser Welt noch bestimmte Aufgaben zu
erfüllen. Ermordete beispielsweise müssen noch dafür sorgen, dass ihr Tod
gerächt wird. (Dass gerade England als das klassische Land der Gespenster gilt,
ist kein Zufall, sondern als Fortsetzung der keltischen Vorstellungen zu
verstehen).
Im Vorhergehenden wurde schon vorausgesetzt,
dass die verstorbenen Menschen in die Anderwelt überwechseln. Mitunter werden
aber auch Lebende von anderweltlichen Wesen verlockt oder gar entführt. Selten
allerdings ist Connlas Schicksal, der von einer Frauengestalt und einer
Frauenstimme in die als Welt der Seligen gepriesene Anderwelt geholt wird. Gegen
seinen Willen, gegen den Willen seines Vaters und des um ihn kämpfenden Druiden
lässt Connla sich dazu verführen, über den See in die Anderwelt zu gehen.
Viele Tiergestalten locken in die
Anderwelt,
Raben, die vielleicht unter einem Dolmen hervorkommen, Hasen, Adler, und am
häufigsten Hirsche. Sie lassen sich auf der Jagd verfolgen und ziehen den
Jäger dabei in entlegene Waldgegenden, welche unmerklich in die Anderwelt
übergehen. Salbhuide, Sohn des Königs von Munster (Irland) gerät auf diese
Weise in das Reich der Toten. Die christliche Legende von Hubertus spiegelt
dieses Ereignis ebenso wie noch der von Hirschen gezogene Wagen oder Schlitten
des Weihnachtsmannes.
Nicht eine Verlockung, sondern geradezu eine
gewaltsame Entführung wird den pferdeähnlichen Wasserwesen nachgesagt, die
unter dem Namen Kelpie oder Mourioche oder ähnlichen bekannt sind. Sie
erscheinen als sanfte, träge Pferde, bieten Menschen ihren Rücken an und rasen
plötzlich schnell mit ihren Reitern in das nächste Gewässer hinein, wo sie
samt ihren Opfern verschwinden und nichts als blauen Dunst hinterlassen, der als
Zeichen ihrer anderweltlichen Natur gedeutet wird.
Andererseits hat es Menschen gegeben, die als
Lebende versuchen, eine Fahrt in die Anderwelt zu unternehmen. Die Schilderungen
ihrer Abenteuer mit seltsamen Wesen und schönen Frauen lassen vermuten, dass
sie diese Reisen in einem besonderen Trance- oder Rausch-Zustand erleben. Das
Ziel scheint etwas Überirdisches zu sein, das mit Sonne, Macht, Schönheit
umschrieben wird. Ist es die Sonne, kann es die aufgehende oder die untergehende
sein. Als Ziel der Anderwelt-Reise wird aber auch die Hölle bezeichnet.
Auf der Reise können verschiedene Stationen
angelaufen werden, meist geschieht das zwangsläufig, so etwa Landmale,
geheimnisvolle Gebäude, Menschen, Tiere. Stets muss der Reisende sich
bewähren, bevor er weiterziehen darf (dies jedoch könnte eine mittelalterliche
Zutat sein). Helfer, oft ein Pferd, können bei der Reise dabei sein. Auffallend
ist der mechanische Ablauf und ein gewisser Zwangscharakter solcher Reisen -
eine Ähnlichkeit mit Träumen mag der Grund dafür sein, und das
wiederum verweist auf den schamanistischen Ursprung ebenso wie die Tatsache, dass der Reisende immer als Eingeweihter angesehen wird. Kein Sterblicher, so
darf man wohl annehmen, macht den Weg in die Anderwelt mit normalem Bewusstsein
und könnte die Stationen und das Ziel in Menschenworte fassen. Viele, die
ausziehen, kommen nicht zurück.
Als Orte des Übergangs, wo man von dieser in
die Anderwelt und von der Anderwelt in diese wechseln kann, gelten neben den
schon erwähnten aus unserer Sicht neolithischen oder bronzezeitlichen
Grabhügeln Dolmen, Höhlen, Seen, Quellen und besonders auch tief gegrabene
Brunnen.
Durchs Wasser scheint auch einer der Wege zu
führen, den die Verstorbenen in das Reich der Toten nehmen. Dort, im
Totenreich, leben sie auf ihre Weise weiter, kommen aber nur in Ausnahmefällen
wieder. Solche Ausnahmen werden gemacht, wenn sie durch magische Kunst
wiederbelebt werden oder wie oben erwähnt, noch etwas zu erledigen haben oder
auch, wenn es sich um besondere Menschen mit metempsychotischem Weg handelt
(dazu unten mehr). Als solche Menschen sind Etain oder Tuan bekannt geworden.
Durch Berührung mit dem eigenen Blut oder auf dem Wege über Kessel können
Verstorbene wiederbelebt, das heißt, in diese Welt zurückgeholt werden. Auch
das Aufsetzen des abgeschlagenen Kopfes ist unter bestimmten Bedingungen
hilfreich. Auch dies ist nur bei besonderen Menschen, etwa bedeutenden Druiden,
möglich.
Ansonsten leben die Toten zwar weiter, kommen
aber nicht wieder auf diese Erde; Reinkarnation ist nicht Teil der keltischen
Glaubensvorstellungen.
An Samain (1. November, zur
Kalenderproblematik siehe jedoch Olmsted). oder auch in der Nacht vor Beltain
(1. Mai) sind die Tore zur Anderwelt geöffnet und zwischen beiden Welten ist ein
leichtes Hin und Her möglich, vornehmlich jedoch in Richtung auf diese Welt. Es
sind dies die Stunden der Toten und der dunklen Welt und als solche sind Samain
(=Allerheiligen) und die Walpurgisnacht erhalten geblieben.
Feenwelten, Elfenreiche, Insel der Seligen,
Totenreich - das sind verschiedene Teile der Anderwelt, über deren Zusammenhang
nichts bekannt ist. Vielleicht sind sie nur als differenzierende
Weiterentwicklungen einer einheitlichen Ausgangsvorstellung anzusehen.
Anderwelt ist ursprünglich, das heißt vor
der bilderreichen, erzählerischen Fortentwicklung wohl gar nicht eine
religiöse Vorstellung, sondern ein kosmologisch-ontologischer Begriff als der
Ort der Transzendenz, wo alle unbekannten Kräfte, alle Geheimnisse, alles
Mystische, alles Lebens-Jenseitige angesiedelt wurde. Die diversen
Ausdifferenzierungen geschahen im Laufe der Zeiten, vielleicht sogar immer
wieder spontan. Sicher hatte jeder Druide - wie im mosaischen Glauben jeder
Rabbiner - die Oberhoheit im Deuten der allgemeinen Lehren. Auf diese Weise
würden sich die vielen Sonderformen und Geschichten erklären.
Die Polarität von Dieser Welt und Anderer
Welt spiegelt sich in dem Begriffspaar, zu dem sich die meisten der keltischen
Vorstellungen fügen lassen: Tod (=Zukunft) auf der einen Seite und Mütter
(=Herkunft) auf der anderen.