Thesen zur Rekonstruktion der keltischen Glaubensvorstellungen 4
Theses on celtic religion   webmaster@gruenverlag.de    Thèses sur la religion des celtes

Schwierigkeiten der
  Quellenlage

  Begriffliche Vorurteile

  Animistische Schicht

 Märchen und  Legenden als legitime Quellen

Schamanismus und Druidismus

Deistische Schicht

Themen

Anderwelt

  Polarität Tod / Mütter 

  Tod

  Dreifacher Tod

  Abgetrennter Kopf

  Köpfe an Ketten

  Kopf und Wasser

 Weitere Kopfgeschichten

  Wasser

Baum und Tod

  Wiederbelebung

Schema zum Wandel der 
Seinsformen

  Mütter

  Ahnenfigur

  Älteste Wesen

  Ursprung des Landes

  Fruchtbarkeit

 Keuschheitstest; Jungfernschaft

  Die Nährende

  Mutterschaft

Mabon  vab Genoveva

  Neues Leben

  Metempsychose

  Magische  Macht

  Souveränität

  Tod und  Mütter

  Heilfunktion

  Gott der Tiere

  Krankes  Auge

  Kranker  Arm

  Portiergeschichten

  Schweinehirt

  Schuhmacher

Weltvorstellungen

  

  Kontakt

 

 

 

Neben den in allen Darstellungen keltischer Mythologie und in allen einschlägigen  Lexika aufgelisteten Gestalten sind die Reste der keltischen Mythologie besonders durch bestimmte Themen charakterisiert, die sich immer wieder angeschlagen finden und bis in die später aufgezeichneten Märchen, Legenden, Sagen und abergläubischen Traditionen der Iren, Schotten, Waliser, Bretonen, Cornish und Engländer hinein aufspüren lassen.

Diese Themen werden hier – zum ersten Male – konsequent herausgestellt, weil sie als die letzten Spuren der eigentlichen Druidenlehre anzusehen sind, welche ja niemals – ganz oder auch nur in Teilen – im Original aufgeschrieben wurde. Archäologische Funde aus romanokeltischen Kulturen werden hier nur gelegentlich herangezogen (s. dazu A. Ross, M. Green), einmal deshalb, weil es um die Aufdeckung (Rekonstruktion) des frühen, vorrömischen druidischen Denkens geht, aber auch deshalb, weil die Archäologie aus Mangel an Deutungsansätzen sehr dazu neigt, alle Funde in schon bereitliegende Schemata einzuordnen und keine Möglichkeit hat, spezifische inhaltliche Züge zu erfassen.

Manche dieser Themen sind keineswegs ausschließlich keltischer Zugehörigkeit, finden sich vielmehr bei vielen europäischen oder auch außereuropäischen Völkern, interessanterweise bis hin zu den Türken, deren vor-islamische Kultur sich aus dem innerasiatischen Schamanengebiet herleitet. Das zeigt aber nichts anderes als daß die Kelten auf vielfältigen Ursprüngen beruhen und an den geographischen wie an den zeitlichen Rändern im Kulturaustausch lebten.

Eines der allgegenwärtigen, bestimmenden Themen ist die Anderwelt.

ANDERWELT

Anderwelt ist ein Seinsbereich, der neben, hinter und nach der realen, diesseitigen Körperwelt besteht. Sie ist nicht einfach mit dem Reich der Toten (Annwn, Anaon) gleichzusetzen; wohl aber ist dieses Totenreich Teil der Anderwelt. Die Anderwelt ist in toto vielmehr das Reich des Transzendenten, des Mystischen, eben des Jenseitigen. Dort herrschen besondere Gesetze, dort wirken besondere Kräfte. Die Kenntnis dieser Gesetze und Kräfte oder von Teilen davon, die Erkenntnis, wie sie in die diesseitige Welt hineinwirken und der Versuch, sie in dieser Welt nutzbar zu machen, wird als anderweltliches Wissen bezeichnet und als Magie gedeutet; anderweltliches Wissen hebt manche der diesseitigen Menschen über andere hinaus und ist den Mittelgeistern selbstverständlich zu eigen. Anderweltliches Wissen gelangt auf verschiedenen Wegen, etwa auch über Kessel und das darin Gebraute, zu den Menschen.

Die Anderwelt wird von besonderen, eben den anderweltlichen Wesen bewohnt. Für ihre Herrscher, deren vielleicht nur einer ist, vielleicht aber auch für je verschiedene Bereiche oder Auffassungen von Anderwelt verschiedene, stehen Namen wie Arawn, Belenos, Donn, Gwynn, Manannan, Pwyll. Bei der unausbleiblichen Gleichsetzung von Anderwelt mit der Unterwelt der antiken Völker und dann mit der Hölle des christlichen Glaubens, wurden Gwynn und Pwyll zum Teufel (Pol ist im Bretonischen der Teufel).

Von übrigen anderweltlichen Wesen weiß man nur, wenn sie in diese Welt herüberkommen. Sie können bei solcher Gelegenheit Menschengestalt haben - und hier wären viele, wenn nicht alle der als Götter und als Mittelgeister bezeichneten Wesen zu zählen. Als Personen mit eigener Geschichte haben sie über die Anderwelt herüber ragende Bedeutung.

Manche wohnen in großen Grabhügeln (=bronzezeitliche Megalithen) und betreten von dort oder von anderen Stellen des Übergangs her diese Welt.

Wieder andere anderweltliche Wesen nehmen in dieser Welt die Gestalt von Tieren an, Schwänen, Kühen usw., und besitzen magische Eigenschaften. So verfügte Finn über ein Schwein, das nicht gekocht, das heißt: nicht getötet werden konnte. Ähnliches wird auch von einer Forelle (=Lachs) berichtet. Raben oder Katzen ( ursprünglich vermutlich der Luchs) bringen anderweltliches Wissen, welches sie an bestimmte Menschen weitergeben.

Das anderweltliche Wissen der Raben enthält zumeist die Kunde von bevorstehendem Unheil, und kundige Menschen, Druiden also, vermögen die Ankündigungen zu deuten (ein Vorgang, den die Römer Auspizien nannten).

Häufiger aber kündigen anderweltliche Tiere, also die anderweltlichen Wesen wie sie uns hier erscheinen, das Unglück nicht an, sondern bringen es über die Menschen oder die Welt. Seltsame Vögel dörren alles mit ihrem Atem aus, Gänse fressen alles weg, Schweine verwüsten ganze Landstriche und erzeugen Not; ein dreiköpfiges Ungeheuer namens Ellen kommt regelmäßig durch die Höhle Cruachan in diese Welt, um Brände zu legen und anderes Unheil anzurichten. Es wird jedoch von Finn vernichtet.

Tiere, die nicht bösartig sind, wie manche Vögel oder auch Insekten, können dennoch anderweltliche Wesen repräsentieren. Es sind dann häufig Seelen von Verstorbenen (Hauchvögel, wie sie gelegentlich genannt werden). Solche Seelen in Tier- oder auch in Menschengestalt können nach dem Tod wiederkehren, um in dieser Welt noch bestimmte Aufgaben zu erfüllen. Ermordete beispielsweise müssen noch dafür sorgen, dass ihr Tod gerächt wird. (Dass gerade England als das klassische Land der Gespenster gilt, ist kein Zufall, sondern als Fortsetzung der keltischen Vorstellungen zu verstehen).

Im Vorhergehenden wurde schon vorausgesetzt, dass die verstorbenen Menschen in die Anderwelt überwechseln. Mitunter werden aber auch Lebende von anderweltlichen Wesen verlockt oder gar entführt. Selten allerdings ist Connlas Schicksal, der von einer Frauengestalt und einer Frauenstimme in die als Welt der Seligen gepriesene Anderwelt geholt wird. Gegen seinen Willen, gegen den Willen seines Vaters und des um ihn kämpfenden Druiden lässt Connla sich dazu verführen, über den See in die Anderwelt zu gehen.

Viele Tiergestalten locken in die Anderwelt, Raben, die vielleicht unter einem Dolmen hervorkommen, Hasen, Adler, und am häufigsten Hirsche. Sie lassen sich auf der Jagd verfolgen und ziehen den Jäger dabei in entlegene Waldgegenden, welche unmerklich in die Anderwelt übergehen. Salbhuide, Sohn des Königs von Munster (Irland) gerät auf diese Weise in das Reich der Toten. Die christliche Legende von Hubertus spiegelt dieses Ereignis ebenso wie noch der von Hirschen gezogene Wagen oder Schlitten des Weihnachtsmannes.

Nicht eine Verlockung, sondern geradezu eine gewaltsame Entführung wird den pferdeähnlichen Wasserwesen nachgesagt, die unter dem Namen Kelpie oder Mourioche oder ähnlichen bekannt sind. Sie erscheinen als sanfte, träge Pferde, bieten Menschen ihren Rücken an und rasen plötzlich schnell mit ihren Reitern in das nächste Gewässer hinein, wo sie samt ihren Opfern verschwinden und nichts als blauen Dunst hinterlassen, der als Zeichen ihrer anderweltlichen Natur gedeutet wird.

Andererseits hat es Menschen gegeben, die als Lebende versuchen, eine Fahrt in die Anderwelt zu unternehmen. Die Schilderungen ihrer Abenteuer mit seltsamen Wesen und schönen Frauen lassen vermuten, dass sie diese Reisen in einem besonderen Trance- oder Rausch-Zustand erleben. Das Ziel scheint etwas Überirdisches zu sein, das mit Sonne, Macht, Schönheit umschrieben wird. Ist es die Sonne, kann es die aufgehende oder die untergehende sein. Als Ziel der Anderwelt-Reise wird aber auch die Hölle bezeichnet.

Auf der Reise können verschiedene Stationen angelaufen werden, meist geschieht das zwangsläufig, so etwa Landmale, geheimnisvolle Gebäude, Menschen, Tiere. Stets muss der Reisende sich bewähren, bevor er weiterziehen darf (dies jedoch könnte eine mittelalterliche Zutat sein). Helfer, oft ein Pferd, können bei der Reise dabei sein. Auffallend ist der mechanische Ablauf und ein gewisser Zwangscharakter solcher Reisen - eine Ähnlichkeit mit Träumen mag der Grund dafür sein, und das wiederum verweist auf den schamanistischen Ursprung ebenso wie die Tatsache, dass der Reisende immer als Eingeweihter angesehen wird. Kein Sterblicher, so darf man wohl annehmen, macht den Weg in die Anderwelt mit normalem Bewusstsein und könnte die Stationen und das Ziel in Menschenworte fassen. Viele, die ausziehen, kommen nicht zurück.

Als Orte des Übergangs, wo man von dieser in die Anderwelt und von der Anderwelt in diese wechseln kann, gelten neben den schon erwähnten aus unserer Sicht neolithischen oder bronzezeitlichen Grabhügeln Dolmen, Höhlen, Seen, Quellen und besonders auch tief gegrabene Brunnen.

Durchs Wasser scheint auch einer der Wege zu führen, den die Verstorbenen in das Reich der Toten nehmen. Dort, im Totenreich, leben sie auf ihre Weise weiter, kommen aber nur in Ausnahmefällen wieder. Solche Ausnahmen werden gemacht, wenn sie durch magische Kunst wiederbelebt werden oder wie oben erwähnt, noch etwas zu erledigen haben oder auch, wenn es sich um besondere Menschen mit metempsychotischem Weg handelt (dazu unten mehr). Als solche Menschen sind Etain oder Tuan bekannt geworden. Durch Berührung mit dem eigenen Blut oder auf dem Wege über Kessel können Verstorbene wiederbelebt, das heißt, in diese Welt zurückgeholt werden. Auch das Aufsetzen des abgeschlagenen Kopfes ist unter bestimmten Bedingungen hilfreich. Auch dies ist nur bei besonderen Menschen, etwa bedeutenden Druiden, möglich.

Ansonsten leben die Toten zwar weiter, kommen aber nicht wieder auf diese Erde; Reinkarnation ist nicht Teil der keltischen Glaubensvorstellungen.

An Samain (1. November, zur Kalenderproblematik siehe jedoch Olmsted). oder auch in der Nacht vor Beltain (1. Mai) sind die Tore zur Anderwelt geöffnet und zwischen beiden Welten ist ein leichtes Hin und Her möglich, vornehmlich jedoch in Richtung auf diese Welt. Es sind dies die Stunden der Toten und der dunklen Welt und als solche sind Samain (=Allerheiligen) und die Walpurgisnacht erhalten geblieben.

Feenwelten, Elfenreiche, Insel der Seligen, Totenreich - das sind verschiedene Teile der Anderwelt, über deren Zusammenhang nichts bekannt ist. Vielleicht sind sie nur als differenzierende Weiterentwicklungen einer einheitlichen Ausgangsvorstellung anzusehen.

Anderwelt ist ursprünglich, das heißt vor der bilderreichen, erzählerischen Fortentwicklung wohl gar nicht eine religiöse Vorstellung, sondern ein kosmologisch-ontologischer Begriff als der Ort der Transzendenz, wo alle unbekannten Kräfte, alle Geheimnisse, alles Mystische, alles Lebens-Jenseitige angesiedelt wurde. Die diversen Ausdifferenzierungen geschahen im Laufe der Zeiten, vielleicht sogar immer wieder spontan. Sicher hatte jeder Druide - wie im mosaischen Glauben jeder Rabbiner - die Oberhoheit im Deuten der allgemeinen Lehren. Auf diese Weise würden sich die vielen Sonderformen und Geschichten erklären.

Die Polarität von Dieser Welt und Anderer Welt spiegelt sich in dem Begriffspaar, zu dem sich die meisten der keltischen Vorstellungen fügen lassen: Tod (=Zukunft) auf der einen Seite und Mütter (=Herkunft) auf der anderen.

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